Ich sitze gerade in Hannover in meinem Hotelzimmer im Central-Hotel Kaiserhof. Ein schönes, feines Hotel – auch wenn es kaiserlicher klingt, als es ist – zumindest für einen Wiener 😉 Hinter mir liegt ein langer Workshop-Tag bei einem Softwareentwicklungsunternehmen. Die 19 Softwareentwickler und Führungskräfte (also alle Mitarbeitenden) haben vor einem Jahr mit mir eine Workshop-Reihe zu agilem Mindset gestartet. Soweit nicht ungewöhnlich. Bis heute.
Als wir vor einem Jahr zusammenkamen, dachte ich: Was wollen die denn? Die machen ja jetzt schon einen fantastischen Job. Liefern Top-Software aus. Die Kunden sind begeistert. Die Entwicklungsprozesse laufen rund. Agiles Arbeiten war nicht nur eine Floskel, sondern Teil ihrer DNA. Die Mitarbeiter zufrieden. Aber sie wollten mehr: Effizientere Abläufe, mehr Teamgefühl, mehr Effizienz, mehr Stolz auf die und mehr Spaß an der Arbeit. Aber trotzdem war da etwas, das fehlte – auch wenn keiner von uns es benennen konnte. Und so machten wir uns auf den Weg.
Und wie jetzt loslegen? Methodisch aufrüsten? Na ja, mal ehrlich: Softwareentwickler können Software entwickeln. Und wenn sie da irgendwas nicht können, dann bringen sie es sich bei. Agile Methoden nutzten sie auch und sie sind kein Hexenwerk. Man findet sie in unzähligen Büchern, Blogs, Guides usw. Alles kein Geheimnis, voll verfügbar und anwendbar. Aber der Spaß beginnt ja dann, wenn agile Methoden und Vorgehen über Retros angepasst werden und immer mehr die Eigenheiten der Teams und Mitarbeiter widerspiegeln. So entsteht der individuelle, agile Weg. Es ist immer eine Freude, wenn ein Team in diesen Modus kommt und sie selbst immer mehr ihre agilen Prozesse gestalten, bis sie so tief in der Unternehmens-DNA sind, dass sie es gar nicht mehr “agil” nennen brauchen. Dann haben sie auch das hochgelobte “Agile Mindset”. Aber wo kommt das her? AHA!
Agilität – Alle wollen es. Und fragt man 10 Experten nach der Definition von Agilität, bekommt man 12 unterschiedliche Antworten. Doof oder? Nein gar nicht! Denn darum geht es ja. Denn hinter diesem kleinen Wort verstecken sich weitere agile Werte wie: Mut, Feedback, Neugier, Offenheit, etc. Auch da gibt es keine zu 100 Prozent definierte Liste – aber viele Ähnlichkeiten. Und da können wir ansetzen, nämlich die Werte definieren: Was heißt denn Offenheit für jeden Einzelnen und fürs Team konkret? Was heißt eigentlich Transparenz? Und was bedeutet Feedback? Und was Mut? Und dann in Summe: Was bedeutet eigentlich Agilität? Die gemeinsame Antwort auf diese Fragen ist so individuell wie das Unternehmen selbst!
Randnotiz: Agile Methoden versuchen diese Werte ja zu “implementieren” und sind sozusagen die Best Practices anderer Unternehmen bei der Umsetzung ihrer agilen Werte. Aber ob das beim eigenen Team/Unternehmen funktioniert, ist ungewiss. Wenn Mut nicht gleich Mut ist, muss Daily auch nicht gleich Daily sein. Großartig, was daraus entsteht!
Mit den Werten sind wir plötzlich in einem Bereich, der auf einmal richtig “soft” und “persönlich” ist. Und damit eröffnet sich eine ganz neue Dimension: Was muss ich denn eigentlich denken, wenn ich diese Werte lebe? Woran glauben? Wer muss ich sein? Welches Team müssen wir sein? Die Reflexion und Auseinandersetzung mit diesen Fragen hat nichts mehr mit agilen Methoden zu tun, sondern führt nur zu Einem: persönliche Entwicklung und Reifung der Mitarbeiter. Oha! Da gehts plötzlich nicht mehr um ein bisschen mehr agil bitte – sondern um Transformation!
“Das mit der persönlichen Entwicklung funktioniert bei uns sicher nicht! Wir haben gestandene Ingenieure und Entwickler. Und wissen Sie, unsere Programmierer sind auch ein bisserl … na ja … eigen. Die setzen sich sicher nicht im Kreis hin, zu Räucherstäbchen und machen doofe Spiele” – Nun, wenn es auch wenig wertschätzend klingt, denkt so doch die eine oder andere Führungskraft. Bloß gut, dass Persönlichkeitsentwicklung sich in den letzten Jahren massiv professionalisiert hat, begleitet durch Erkenntnisse der Psychologie und Hirnforschung.
Wir haben heute im Workshop behandelt, was ein agiles Team von sich selbst denken muss, um gut arbeiten zu können – und was jeder von sich selbst glaubt und glauben sollte. Das hat den Softwareentwicklern nicht nur geholfen, ein gemeinsames Verständnis für agiles Teamwork zu bilden, sie haben sich auch gegenseitig auf einer ganz neuen Ebene kennengelernt und ausgetauscht. Und was dabei am wichtigsten ist, hat ein 25-jähriger Teilnehmer am Schluss gesagt: “Puh, ich hab heute echt viel über mich gelernt. Das hätte ich nicht gedacht.”
Und das ganz ohne Sitzkreis, Räucherstäbchen und doofe Spiele.